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Was ist ein Kind?

  • Rita Ketler
  • 1. Aug. 2023
  • 9 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 15. Apr. 2024

Ein Essay


Nach dem Konsens einer Mehrheit der Länder beginnt die Existenz eines Kindes vor seiner Geburt. Viele dieser Staaten definieren das achtzehnte Lebensjahr als das Ende der Existenz dieses Kindes.


Trotzdem höre ich nicht auf, das Kind meiner Mutter zu sein. Mehr noch – da das Erscheinen des Kindes nicht an ein Dasein im gemeinen Sinne gebunden ist, was unter anderem Wahlfreiheit, ein Gewissen oder bestimmte gesellschaftliche Ansprüche und Erwartungen umfasst, ist sein Zweck nicht gezwungenermaßen durch die Notwendigkeit an ein solches Dasein begrenzt, das die meisten der Menschen auszeichnet. Meine Mutter bleibt das Kind ihrer Mutter, auch wenn ihre Mutter nicht mehr von dieser Welt ist, und auch jene wird das Kind ihrer Mutter bleiben, obwohl beide nicht mehr leben. Sicherlich setzt die gesetzliche Definition dem Kind ein relativ eindeutiges Ende, aber die Erfahrung und unser Gefühl sagen uns, dass jeder Mensch, der eine Mutter hat, die das Kind nicht unbedingt geboren haben muss, für eine unbestimmte Zeit Kind bleibt. Das heißt also: Ein Kind ist jede Person, die auf dieser Erde lebt oder gelebt hat, und noch andere, die noch nicht im Sinne der Mehrheit der anderen leben.


Nun reicht es nicht mehr nur zu fragen: Wer ist ein Kind?, sondern auch im weiteren Sinne: Was ist ein Kind? Wenn jeder ein Kind ist, warum wird dann der Begriff Kind überhaupt verwendet? Wie und warum gewähren wir dem Kind den Status einer singulären Entität, wenn es unmöglich scheint, ein Wesen zu finden, das kein Kind ist?


Es scheint einfacher zu sagen, was ein Kind nicht ist, als zu sagen, was es ist. Empirisch, aber auch rechtlich ist ein Kind weder verpflichtet zu arbeiten, noch mit seiner Stimme zur Gesellschaft beizutragen oder Steuern zu zahlen. Ein Kind wird also vom Erwachsenen durch das Fehlen bestimmter gesellschaftlicher Pflichten abgegrenzt; und diese Erwachsenen definieren es wiederum als Kind.


Bereits im Mutterleib hat ein Kind das Recht zu leben (das Recht, ein Kind zu sein, kann mit dem Abtreibungsverbot parallel gestellt werden, denn wenn es noch nicht als Kind klassifiziert ist, kann ein Schwangerschaftsabbruch vollzogen werden). Es hat das Recht darauf, in Sicherheit zu leben und sein Potenzial zu entfalten. Ein Kind ist also ein Wesen, welches sich mehr durch seine Rechte als durch seine Pflichten definiert. Trotzdem reicht auch dies nicht aus. Diese Rechte können verweigert werden, sodass ein Kind in einer prekären Situation seine Familie finanziell unterstützen oder in Kriegszeiten sogar zur Verteidigung des Staates beitragen muss. Letztlich ist die Definition des Kindes in Bezug auf seine Rechte nichts als eine Fantasie, die jene Realität vernachlässigt, dass ein Kind realistisch gesehen absolut dazu verpflichtet werden kann, einen gewissen Beitrag zu leisten und eine gewisse Anforderung zu erfüllen (in der Gesellschaft im weiteren Sinne und in der Familie in einem engeren Sinn).


Vielleicht macht diese Unkenntnis von realen Verpflichtungen die Suche nach einer Antwort auf die Frage Was ist ein Kind? so schwierig. In der idealen Vorstellung wird das Kind rein negativ durch das Fehlen gesellschaftlicher Pflichten definiert, obwohl eine positive Definition möglich ist, wenn wir in Betracht ziehen, welchen Erwartungen Kinder in der Gesellschaft zu folgen haben. Für eine vollständigere Definition des Begriffs des Kindes reicht es nicht aus, es nur als Wesen zu verstehen, das ohne die Pflichten des Erwachsenen existiert.



Ein Kind ist ein Wesen im Werden


Zugegeben, in einem von Armut und Kinderarbeit geprägten Land ist der Schulbesuch weniger Pflicht als Privileg; eine Chance, die prekäre Gegenwart zu überwinden, um mehr Mittel und Möglichkeiten zu erlangen als die seiner Familie. Allerdings stuft Europa das Schulsystem nicht als Recht auf Bildung ein, sondern als Schulpflicht, die in den meisten europäischen Ländern besteht. Warum gilt in all diesen Ländern die Schulpflicht, auch wenn es Berufe, die keine bestimmte Ausbildung erfordern, und sogar Arbeitslosengeld gibt? Warum die Schulbildung für eine große Mehrheit der Kinder obligatorisch machen (und nicht die Freiheit der Bildung praktizieren, wie es in einigen Ländern, einschließlich Italien, Dänemark und Irland, praktiziert wird), wenn Bildung nicht lebenswichtig ist? Eine mögliche, aber relativ pessimistische Erklärung ist das Verständnis des Kindes als gültige Möglichkeit des Staates. In dem mit Jean-Claude Passeron verfassten Werk La Réproduction definiert Pierre Bourdieu das Bildungssystem insbesondere in Frankreich weder als Recht noch als Pflicht, sondern als symbolische Gewalt. So schreibt er:


“L’action pédagogique est objectivement une violence symbolique (…) en tant que les rapports de force entre les groupes ou les classes constitutifs d’une formation sociale sont au fondement du pouvoir arbitraire qui est la condition de l’instauration d’un rapport de communication pédagogique, i.e. de l’imposition et de l’inculcation d’un arbitraire culturel selon un mode arbitraire d’imposition et d’inculcation (éducation).”


"Pädagogisches Handeln ist objektiv symbolische Gewalt (...), insofern die Machtverhältnisse zwischen Gruppen oder Klassen eine soziale Formation darstellen, die die Grundlage für willkürliche Macht bildet, die ihrerseits die Bedingung für die Herstellung eines pädagogischen Vermittlungsverhältnisses ist, d.h. für die Auferlegung und Einprägung einer kulturellen Willkür nach einem willkürlichen Modus der Auferlegung und Einprägung (Erziehung).“


Bourdieu will, dass wir das Bildungssystem erstens als einen Modus des Staates verstehen, eigene Macht einzufordern, und zweitens als Mittel, die Beziehungen der Staatsangehörigen untereinander und deren Befugnisse zu lenken. Diese willkürliche Macht manifestiert sich durch die Form der Bildung, die für Bourdieu ein (impliziter, aber trotzdem realer) Weg ist, die Bürger dem Willen der Regierung zu unterwerfen, mit anderen Worten: symbolische Gewalt.


In diesem Sinne verstehen wir das Kind nicht nur durch das Fehlen eines Arbeitszwanges (denn wie erwähnt, kann dieses Recht widerrufen werden), sondern vielmehr durch die Anforderung, der das Kind ausgesetzt ist, bestimmten staatlichen Wertvorstellungen nachzukommen. Nicht nur ist das Kind der Spiegel dieser Normen, sondern vor allem ein Wesen, welches die Möglichkeit innehat, diese auch für die Zukunft zu festigen. Das Kind ist also jemand, der die Inhalte der Gesellschaft, in der es aufwächst, integriert und widerspiegelt, aber auch jemand, der sich durch sein Potenzial auszeichnet, die Gesellschaft in ihrer jetzigen Form in der Zukunft zu erhalten. Wie eine meiner Freundinnen in einem Gespräch, einen gewissen Zynismus nicht entbehrend, sagte: „Kinder sind noch nicht ganz fertige Vernunftmaschinen.“


Aber auch ohne diese Negativität Bourdieus (oder meiner Freundin) können wir die Bedeutung des Potentials des Kindes verstehen, welches seinen besonderen Status in der Gesellschaft definiert. Warum ist der Tod eines Kindes eine so große Tragödie, die im Vergleich zu einem an Altersschwäche sterbenden Menschen eine besonders schockierende Implikation hat? Es scheint, dass das verlorene Potenzial einer möglichen Zukunft die beiden Fälle voneinander unterscheidet. Abgesehen von dem verlorenen Potenzial für die Gesellschaft ist das Kind also ein Wesen, welches noch nicht geworden ist, welches sein eigenes Potenzial und das jener, die ihm vorausgegangen sind, in der Zukunft verwirklichen kann (und oft auch soll). So vollzieht sich der Untergang der Familie Buddenbrook in Thomas Manns Roman nicht mit dem Tod des Familienoberhauptes Thomas Buddenbrook, sondern mit dem Tod seines einzigen Erben, seines Sohnes Hanno. Der Tod des Kindes ist der tragische Verlust seines Potenzials sowie des Potenzials seiner Familie. Ebenso gehen mit diesem Potenzial besondere Rechte und Erwartungen einher; zur Schule gehen zu können und zu müssen oder die Chance, einer möglichen Zukunft gerecht zu werden. Wie Levinas sagte:


„Der Sohn ist nicht nur mein Werk, wie ein Gedicht oder ein Objekt. Er ist auch nicht mein Eigentum. Weder die Kategorien der Macht noch die des Wissens beschreiben meine Beziehung zu dem Kind. Die Fruchtbarkeit des Selbst ist weder Ursache noch Herrschaft. Ich habe mein Kind nicht, ich bin mein Kind."


Oder mit den Worten des Schriftstellers Cormac McCarthy: „The child, the father of the man“. Die Eltern (oder die Gesellschaft, nach Bourdieu) verwirklichen sich durch das Kind, aber das Kind selbst hat die Macht, diejenigen durch sich selbst zu verwirklichen, die vor ihm gelebt haben. Es reicht nicht aus, das Kind in Bezug auf die Rechte und Pflichten zu definieren, von denen es befreit ist, denn dieser Ausschluss ist mit seinem besonderen Status als Wesen verbunden, welches im Werden begriffen ist. Ebenso erhält es alle damit verbundenen Anforderungen und Erwartungen dank dieses Verwirklichungsprozesses, in dem es sich befindet und vor allem hinsichtlich seiner potentiellen Zukunft. Auch wenn sie aufschlussreich sein mag, basiert diese Auffassung trotzdem auf einem fast metaphysischen Verständnis (eine Gewalt, die eher symbolisch als greifbar ist, ein Potential, welches mehr auf der Zukunft als auf dem gegenwärtigen Moment basiert) – kehren wir also besser zu der Erfahrung zurück.


Ich bin das Kind meiner Mutter, aber ich sehe mich nicht als Kind. Wann habe ich aufgehört, ein Kind zu sein? In diesem Moment kann ich sagen, dass ich ein Kind war und es jetzt nicht mehr bin. Das heißt, es hätte eine Zeit geben müssen, in der ich ein Kind war, und eine Zeit danach, in der ich es nicht mehr war. Dieser Moment der Transformation scheint die Abgrenzung zwischen mir, dem Kind, und mir, dem Nicht-Kind zu sein. Das heißt also, das Kind definiert sich nicht nur durch sein Potential, sondern auch durch seine Abgrenzung, die eine Trennlinie zwischen mir und dem anderen schafft. Mehr noch: Ich bezweifle stark, dass sich Kinder in der gleichen Weise damit beschäftigen, was sie sind, wie sich Erwachsene damit beschäftigen, was Kinder seien. Kind scheint nicht nur ein Begriff der Abgrenzung zu sein, sondern auch ein immer von außen wahrgenommenes Anderssein. Ich kann mich nicht erinnern, jemals gedacht zu haben: Ich bin ein Kind.



Ein Kind ist das Andere


Diese Vorstellung der definitiven Abgrenzung, die aus der Konzeption des Kindes als Alterität resultiert, können wir in der Literatur wie in der Philosophie beobachten. Marcel beginnt seine Suche nach der verlorenen Zeit mit einer Rückkehr in seine Kindheit. Seine Erinnerungen an eine sorglose und naive Kindheit scheinen im Dorf Combray festgehalten und existieren abgeschottet vom Leben in Paris, wo seine Liebe zu Albertine erblüht, die ihn vom Kind zum Jugendlichen reifen lässt. Hier ist die Kindheit ebenso prägend wie unerreichbar. Diese Eigenschaften betreffen nicht nur die Kindheit, sondern auch das Kind selbst. Wir finden das Kind mit Eigenschaften ausgestattet, die der Erwachsene verloren hat – in den Büchern von Astrid Lindgren und Michael Ende sind Kinder nicht selten stärker, mutiger und sensibler als ihre Eltern; im Kleinen Prinzen können Kinder dank ihrer offenen Herzen und Augen sogar Dinge erkennen, die für Erwachsene unsichtbar bleiben (der Elefant in der Anakonda, das Schaf in der Kiste). Das soll nicht heißen, dass Kinder wirklich einen reineren Zugang zur Welt begreifen, aber dass sie von Erwachsenen in ihrer idealisierten Vorstellung nicht selten so gesehen werden. Sogar die Kunst Picassos, der im Alter von 6 Jahren eine voll ausgereifte künstlerische Fähigkeit zeigte, können wir als Versuch sehen, einen fantasievolleren, kreativeren und weniger eingeschränkten Blick auf die Welt zu finden – das Wiederfinden eines kindlichen Sehens im Erwachsenen. In Platons Dialog Menos bittet Sokrates Menos, sich ein Kind vorzustellen, dem er ein geometrisches Problem stellen wird. Ohne ihm eine Lektion zu erteilen, stellt er jenem nur Fragen – der Kern der sokratischen Mäeutik (die bereits etymologisch mit der Vorstellung einer „Ideengeburt“ verknüpft ist). Es handelt sich nicht um eine Lehrmethode, sondern um eine Reminiszenz; ihm zufolge kennen wir bereits alle Wahrheiten, unsere Unwissenheit ist das Ergebnis des Vergessens und nicht eines Mangels an Wissen.


Die Idee der Abgrenzung von sich selbst als Kind, dem Kind als dem Anderen, dessen Entfremdung überwunden werden soll, finden wir auch bei Nietzsche, der in seiner Idealisierung des Kindes als Alterität noch weiter geht. In seinem Werk Also sprach Zarathustra spricht Zarathustra in seiner ersten Rede von drei Metamorphosen, die drei Formen des Geistes veranschaulichen, von denen die letzte die des Kindes ist. Das Kind (wie der Löwe, der die zweite Metamorphose ist) hat die Kraft, neue Werke zu schaffen, aber im Gegensatz zum Löwen ist die Kraft des Kindes nicht destruktiv, sondern schöpferisch. Das Kind lässt sich nicht von der Nichtigkeit der Welt, dem Nihilismus überkommen, sondern bejaht und überwindet diese durch seine eigene Art des Schaffens – des spielerischen Schaffens.


Aber noch wichtiger ist, dass die Fähigkeiten, die eher dem Kind als dem Erwachsenen zugeschrieben werden (spielerisches Gestalten, freies Spiel), mit enormer Bedeutung ausgestattet, idealisiert und als etwas beschrieben werden, das es zurückzuerobern gilt. Damit soll wiederum nicht gesagt werden, dass das Kind diese fast mythischen Eigenschaften wirklich besitzt (bei Nietzsche ist das Kind ein Abbild des Übermenschen), sondern dass das Kind häufiger von außen gesehen wird, als dass es sich selbst beschreibt. Dieser äußere Blick ist eine Kluft, die einerseits zu überwinden ist, um die idealen Eigenschaften des Kindes zu erreichen, und andererseits unüberwindbar, weil die Erwachsenen wissen, dass sie niemals zu diesem vergangenen und idealisierten Zustand zurückkehren können. In diesem Sinne wird das Kind als das Andere verstanden, als ein Anderssein, das über ideale Eigenschaften und Fähigkeiten verfügt, die von jenen (wieder-) erlangt werden wollen, die keine Kinder mehr sind und es auch nie mehr sein werden.



Ein Kind ist, wer nicht ist, sondern nur da war oder sein wird?


Kinder sind also all diejenigen, die auf dieser Erde gelebt haben, jetzt leben und auch diejenigen, die noch nicht gelebt haben. Wenn aber ein Kind durch sein zukünftiges Potenzial oder sein Anderssein definiert wird, lässt sich der Begriff nur über Vergangenes oder Zukünftiges verstehen, niemals über seine Gegenwart. Was machen wir also mit einer ebenso paradoxen wie nicht greifbaren Definition? Diese typisch philosophische Definition kann uns trotz allem helfen, die schöpferischen und spielerischen Eigenheiten des Kindes zu bewundern und es dabei zu unterstützen, sein zukünftiges Potenzial zu entfalten, ohne ihm dabei notwendigerweise aufzuzwingen, auch unser unerfülltes Potenzial realisieren zu müssen.


Aber die Suche nach hinreichenden Bedingungen, ein Kind zu beschreiben, hat Grenzen und bleibt immer restriktiv, weil es sich in unserem Fall um eine externe Interpretation handelt und nicht um die Definition eines Handelnden, der sich selbst beschreibt. Wir dürfen die Bedeutung der einfachen Beschreibung nicht vergessen, die mit objektivem Blick die Wichtigkeit auf die notwendigen Bedingungen legt, ohne den Gegenstand der Beschreibung über unsere Interpretation zu vergessen. Fragen wir also die Kinder: Was seid ihr? und nicht Was willst du sein, wenn du groß bist?, sondern Was bist du jetzt? Unsere Aufgabe ist es, nicht nur durch Interpretation eine Antwort zu finden, sondern die Antworten, die uns gegeben werden, durch Zuhören zu verstehen. Fragen wir Erwachsene, Philosophen, Schriftsteller und Maler, können sie uns sagen: Ein Kind ist jemand, der sich durch sein Zukunftspotential und jene spielerischen und kreativen Qualitäten auszeichnet, nach dessen Wiedererlangung der Erwachsene strebt. Deshalb ist das Kind jemand, der nicht die gleichen Verpflichtungen wie Erwachsene, jedoch das Recht hat, in Sicherheit und Freiheit aufzuwachsen und sich zu entwickeln.


Wenn ich jedoch meine Klavierschüler frage: Was bist du? – Ich bekäme vermutlich eine Antwort wie: Ich bin müde, ich habe Hunger, ich habe keine Lust mehr. Und das ist eine ebenso gültige Antwort wie die Antwort der Erwachsenen auf die Frage: Was ist ein Kind?




Foto: Rita Ketler

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