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Schwangerschaftsabbruch - Medusen und Gretchen

  • Luisa Gärtner
  • 8. Aug. 2023
  • 9 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 15. Apr. 2024



Schuldzuweisungen, schlechte Versorgung, gesellschaftliche Verurteilung und Paternalismus treffen auch heute, auch in Deutschland Personen, die ohne einen Hauch eigener „Schuld“ in die Situation geraten sind, eine Schwangerschaft abzubrechen – z. B. aufgrund einer Vergewaltigung oder aus medizinischer Notwendigkeit. Ihre Geschichten zeigen, dass Gesundheitssystem und Gesellschaft Schwangerschaftsabbrüche aus Prinzip unterfinanzieren, tabuisieren. Dass die Kirche medizinische Hilfe unterbinden kann und lässt. Dass den Betroffenen medizinische und psychosoziale Hilfe verwehrt bleibt, die bei simplen Knieoperationen unhinterfragt geleistet werden würde. Die psychischen Belastungen und Schäden, die nach medizinischen Komplikationen hieraus auftreten können, tragen die Betroffenen, doch diese sollte auch die Gesellschaft tragen.


“Ich habe mich nachts auf den Rücken gelegt und mit meinem Baby geredet”

(K, stand per Gesetz bei der Geburt keine Hebamme zu)


 

Die Abschaffung des Paragraphen 219a, der die “Werbung für Schwangerschaftsabbrüche” (Informationen auf der Seite einer kassenärztlichen Arztpraxis zum Beispiel) verbietet - als welch großen Schritt, der endlich das “Ende der jahrzehntelangen Kriminalisierung der Ärzte”[1] bedeute, hat der Bundestag sie gefeiert! Die Freude über diesen Schritt verschleiert, dass Frauen, die abtreiben, verurteilt, beschämt und vor allem schlecht versorgt werden – vom Gesundheitssystem, das technisch bessere Versorgung leisten könnte.


Die Situation von Personen, die Schwangerschaften abbrechen, zeigt: der medizinische Fortschritt einer Gesellschaft kommt nur bei denen an, die ihn scheinbar verdienen. Erwartbare Hilfe, wie ein Ausbau der Einrichtungen, die Abtreibungen durchführen, bleibt trotz der Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch und der Abschaffung von Paragraph 219a aus. Damit bleibt die medizinische Versorgung von Frauen, die eine Abtreibung wollen oder brauchen, weit hinter der von nicht tabuisierten, nie verurteilten oder negativ konnotierten medizinischen Eingriffen wie simplen Knieoperationen zurück. Und sie wird schlechter, was ein DLF-Beitrag von März 2020 beleuchtete: Seit den frühen 2000er Jahren hat sich die Zahl der Einrichtungen, die Abtreibungen vornehmen, halbiert.


“Ich kann mich ehrlich gesagt kaum noch an den Tag erinnern. ich weiß noch das es sehr sehr sehr wehgetan hat. es war schwer danach das ganze Blut aufzuwischen und vor allem durften meine Eltern davon ja nichts ahnen. Ich musste also danach so tun als ob alles gut wäre und das war eigentlich das schlimmste. das ich mir selbst so wehtun musste und konnte es niemandem sagen obwohl ich ja NIX falsch gemacht habe.”

(X, hat nach einer Vergewaltigung mit 16 Jahren heimlich abgetrieben)


Für diesen Artikel haben zwei Frauen von ihren Aborten erzählt, die einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen haben, obwohl sie Mütter werden wollten oder weil sie vergewaltigt worden sind. Das soll keinesfalls darauf hindeuten, dass Abtreibungen nur für Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen oder nach einer Vergewaltigung eine Schwangerschaft abbrechen müssen, erlaubt sein sollten, im Gegenteil! Es soll vielmehr die wieder und wieder von “Pro-Life”-Aktivist*innen bemühte Prämisse aus dem Weg geräumt werden: die Annahme, dass die vergleichsweise schlechte Versorgung von Schwangerschaftsabbrüchen durch das Gesundheitssystem aus dem moralischen Argument der “Schlechtigkeit” oder “Bösartigkeit” der scheinbar “freiwilligen” Abtreibung herrührt. Denn unser Gesundheitssystem und die Gesellschaft, die Schwangerschaftsabbrechende unterstützen sollen, sind so sehr von veralteten moralischen Vorstellungen bestimmt, dass sie die Versorgung nicht leisten können, ob „aus freier Entscheidung” oder nicht.


Keine der Frauen in diesem Artikel ist aus freier Entscheidung in die Situation gekommen, einen Abort durchzuführen. Bei allen war der Abort mit großen körperlichen und psychischen Leiden verbunden. Ks ungeborene Tochter Tara bekam in der 15. Woche die Diagnose Trisomie 21. Es wurde angeraten, eine stille Geburt einleiten zu lassen. X hat nach einer Vergewaltigung heimlich in einer Gartenhütte abgetrieben, weil sie das Dorfgerede fürchtete. Bis heute weiß nur eine Person von der Vergewaltigung – die Freundin, die ihr bei der Abtreibung half.




Teil I: Stille Geburten in Deutschland – medizinisch indiziert, grottig versorgt


Die Diagnose Trisomie 21 für ihr ungeborenes Kind versetzt K und ihren Partner in einen Schockzustand. Es wird aufgrund der Schwere der Krankheit in der 16. Woche angeraten, sich für eine stille Geburt zu entscheiden. Bedenkzeit: Zwei Tage. Durch die Entscheidung der Eltern über Leben und Tod ihrer Tochter sichern sich Ärzt*innen und Krankenhausmitarbeiter*innen rechtlich ab. Für K und M bedeutet das trotz der Diagnose, die eine definitive Nicht-Lebensfähigkeit ihrer Tochter miteinschließt, eine extreme psychische Bürde. Das Paar entscheidet sich für eine stille Geburt.


“Da die Maus noch gelebt hat, ging das auch nur in einer nicht katholischen Klinik. Da fängt es leider schon an, dass man sich sehr im Stich gelassen fühlt. Andererseits waren wir froh, dass es an einem Ort passiert, mit dem man nicht so viel verbindet. In unserem Fall Homburg. Wir sind nicht so die Saarlandfans und haben uns das Ganze mit Galgenhumor positiv geredet.”


K muss zur Behandlung ins 120 km entfernte Homburg. Dort bekommt sie ein Einzelzimmer und eine Tablette. Das Schlucken der Tablette wird die stille Geburt einleiten. K behält sie 15 Minuten im Mund. Beim Schlucken ist sie allein, nach 48 Stunden Warten sollen die Wehen einsetzen. Die Zeit im Zimmer in der Klinik ist traumatisch, auch weil K dort erfährt, dass ihr keine Hilfe durch eine Hebamme zusteht:


“Ich habe mich bis zu dem Zeitpunkt noch nicht mit einer Geburt auseinandergesetzt. Ich habe durch diese schlaflose Nacht erfahren, dass ich dieses Kind auf dem Zimmer ohne Hebamme zur Welt bringen muss, weil mir unter 500g oder der 20. SSW kein Kreißsaal zusteht. Kann sein, dass es mittlerweile anders ist, was ich mir sehr erhoffen würde. Ich habe mich nachts auf den Rücken gelegt und mit meinem Baby geredet.“


Wie alles an diesem Artikel schon vermuten lässt: Ks Hoffnung, dass die Situation sich heute für still Gebärende insofern verbessert hat, dass sie überhaupt von einer Hebamme betreut werden, hat sich nicht erfüllt: auf der Seite des Familienministeriums heißt es auch 2022:


“Im rechtlichen Sinne ist eine Fehlgeburt keine Entbindung. Eine Fehlgeburt liegt vor, wenn sich außerhalb des Mutterleibs keine Lebensmerkmale gezeigt haben, das Gewicht weniger als 500 Gramm betragen hat und die Geburt vor der 24. Schwangerschaftswoche erfolgt ist. Bei einer Fehlgeburt endet der Mutterschutz mit dem Ende der Schwangerschaft. Die Schutzfrist nach der Entbindung tritt somit nicht ein.”[2]


Das heißt so viel wie: Die Verschlechterung der Bedingungen für Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, hat sich trotz aller Kampagnen in den letzten 20 Jahren noch gesteigert. Seit den frühen 2000er Jahren hat sich die Zahl der Einrichtungen, die Abtreibungen vornehmen, halbiert.


K wird nach der Ausschabung in einen normalen Aufwachraum mit glücklichen Müttern geschoben.

“Ein furchtbarer Moment. Ich weiß davon leider auch kaum mehr was. Ich war total unter Schock und bin panisch im Aufwachraum aufgewacht. Dort habe ich die ganze Zeit etwas laut nach meiner toten Tochter gefordert. Im Nachhinein sehr schrecklich, weil ich nicht alleine dort lag, sondern mit den anderen Mamas, die nach den geglückten Kaiserschnitten neben mir lagen. Eine Tür weiter saß M, der vor dem Kreißsaal auf mich gewartet hat – mit Wänden behangen voller glücklicher und gesunder Babys. Eine Tortur für uns beide.”


K bekam also das Minimum an Versorgung und durch Glück vorher bei der stillen Geburt doch eine Hebamme. Mit der Organisation der Beerdigung, die in einer so traumatischen Situation sowieso an Wahnsinn grenzt, wird sie ebenfalls allein gelassen:


“Von dem Krankenhaus kam leider wenig Unterstützung für danach. Wir sind am gleichen Tag nachmittags nach Hause und haben von unserer Hebamme noch einen USB-Stick mit zwei Bildern unserer Tochter drauf mitbekommen. Das einzige, was neben Hand- und Fußabdrücken bleibt! Ich hätte mir sehr eine Sternenfotografin gewünscht. Es ist das einzige, was bleibt. Dass wir sie beerdigt haben, war unsere Entscheidung und ich habe am Tag selber alles mit unserem Bestatter ausgemacht, der sich um die weiteren Schritte gekümmert hat. […] Was mich sehr enttäuscht hat, war die Hebamme, mit der ich schon einen Vertrag hatte für die Nachsorge. Sie hat mich nicht unterstützt, weil sie keinerlei Erfahrungen mit diesen Situationen hat. Habe mich da sehr verlassen gefühlt. Da sehe ich sehr viel Potential, dass sich das Fachpersonal weiterbilden muss für eine sensibilisierte Betreuung. “


K berichtet reflektiert und gefasst über die Situation und mir scheint, als wolle sie niemandem persönlich die Schuld dafür geben, dass sie in dem Schicksalsschlag, der die Nichtlebensfähigkeit ihres Kindes für sie und ihren Partner bedeutete, vom System medizinische und psychosoziale Versorgung nicht erhalten hat.


Es krankt am System und es krankt am Tabu, wie der Erfahrungsbericht von X zeigt, die nach einer Vergewaltigung aufgrund von erwarteter Scham, Schuldzuweisungen und Tabu abgetrieben hat.




Teil II: Die Unterversorgung einer vergewaltigten Minderjährigen


*Triggerwarnung: Gewalt, Alkoholkonsum, Vergewaltigung*


Die Zuschrift wird im Folgenden unverändert in Gänze abgedruckt, um nicht in die Schilderung einzugreifen.


“Ich hatte leider eine Abtreibung weil ich leider vergewaltigt worden bin als ich sechzehn gewesen bin. Das darf aber bitte niemand wissen also ich habe es nie erzählt. Meine Eltern auch nicht oder auch mein Freund nicht. Die Einzige die es weiß ist meine Freundin Y. Es war auf einem Festival und ich hatte auch zu viel getrunken, ich kannte denjenigen gar nicht. Ich würde auch sein Gesicht nie erkennen denke ich. es war sehr schlimm für mich aber schlimmer noch war für mich das ich danach schwanger geworden bin. Ich mag schon Kinder, aber ich wollte das Kind leider nicht haben, weil ich das zu schlimm fand dem Kind in die Augen kucken konnte ich nicht oder hätte ich nicht gekonnt. Ich weiß es auch gar nicht was ich den anderen leuten gesagt hätte woher das Kind ist z.b. Daher habe ich beschlossen das ich das Kind nicht haben durfte. Ich konnte mich aber an niemand wenden weil es ja niemand wissen durfte. ich habe mich auch geschämt. Mein Hausarzt z.b. ist sehr lieb aber ich wollte es ihm trotzdem nicht sagen. Außerdem hätte es dann ja auch jemand gemerkt. ich wohne in einem kleinen Dorf und so Sachen werden IMMER an die große Glocke gehängt da hilft es auch nix wenn man um Vertraulichkeit bittet. Also habe ich meine Kollegin gefragt, ob sie mir helfen kann. Also ich bin Altenpflegerin. Aber sie ist gelernte Artzthelferin. Wir haben es dann in der Hütte im Garten meiner Eltern gemacht als die nicht da waren und bevor man auch was gesehen hat von dem dicken Bauch. Ich kann mich ehrlich gesagt kaum noch an den Tag erinnern. ich weiß noch das es sehr sehr sehr wehgetan hat. es War schwer danach das ganze Blut aufzuwischen und vor allem durften meine eltern davon ja nichts ahnen. Ich musste also danach so tun als ob alles gut wäre und das war eigentlich das schlimmste. das ich mir selbst so wehtun musste und konnte es niemandem sagen obwohl ich ja NIX falsch gemacht habe. Ich kenne noch jemanden der abgetrieben hat und die berichtet das alles sehr ähnlich: Das man sich an niemanden sich so richtig wenden kann, weil man sich halt schämt und weil man denkt man tut was Böses. Man sagt ja das Frauen Mörder sind wenn sie ihr Baby abtreiben, aber ich sehe mich nicht so. Im Gegenteil ich rette Menschen jeden tag und tue Gutes. ich habe nichts falsches getan und es ist scheiße das ich trotzdem niemandem davon erzählen kann weil ich angst davor habe was die Reaktionen sind. Ich find´s ziemlich cool, das du einen Artikel darüber schreibst. Ich finde das viel zu wenig darüber geredet wird :) Aber bitte denk dir einen anderen Namen für mich aus :) Ich will am Ende noch schreiben was ich nach der Abtreibung gemacht habe. Eigentlich nicht viel. ich habe sehr liebe freunde, die schon gemerkt haben das etwas nicht stimmt. Auch mein Papa hat das gemerkt. Aber niemand wusste genau was abgeht und das konnte sie ja auch zugegebermaßen nicht. Oft haben Leute versucht mit mir darüber zu reden und paar mal hätte ich beinahe drüber geredet. ich wünsche es wäre kein Tabu mehr in der Gesellschaft und ich müsste mich nicht mehr schämen dafür. mein freund ahnt schon manchmal glaube ich was passiert ist.“


Auch wenn X‘ Geschichte wie aus dem Mittelalter entnommen klingt, ist es weniger als ein Jahrzehnt her, dass sie nach einer Vergewaltigung minderjährig selbst einen Schwangerschaftsabbruch durchgeführt hat. Ohne jede medizinische Betreuung. Sie lebte mit 16 Jahren im gleichen Umfeld, in dem sie heute lebt, und mitten in unserer Gesellschaft. Ihre Schilderung erinnert gleichsam an eine Szene des Abbruchs im Film “Portrait einer jungen Frau in Flammen” – der in der Renaissance spielt. X erlebt, was viele, wenn nicht sogar die meisten Menschen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, erleben: die totale Tabuisierung und die Befürchtung des Stigmas, das gefährliche Eigenabbrüche ohne medizinische Betreuung als risikofreier erscheinen lässt als die Wendung ans Gesundheitssystem und die Gesellschaft. Dies bezieht sich auf Versorgung, aber auch auf emotionalen Support. Sie sieht sich gezwungen, unter Bedingungen die Schwangerschaft abzubrechen, die sich nicht von denen unterscheiden, die heutige Gesetze bereits dringend verändern mussten.


Wer ist an diesem Umstand schuld? Vielleicht ein Kollektiv, das sich deutsche Gesellschaft nennt. Vielleicht brauchen wir eine Umkehrung des Aktivismus: nicht peu à peu die Straffreiheit aufheben, sondern Schwangere an ihr Recht auf Schwangerschaftsabbrüche erinnern. Bedingungen fordern, für alle, für die Vergewaltigten, die medizinisch durch die Schwangerschaft im Risiko Stehenden und alle, die die Entscheidung treffen, kein Kind auszutragen, diese so gut zu versorgen, zu beraten, zu unterstützen, wie es nur möglich ist.


Warum ist der Untertitel dieses Artikels eigentlich: Medusen und Gretchen, haben Sie sich bestimmt gefragt? Gegenfrage: Wussten Sie, dass Medusa vergewaltigt wurde und ihr Priesterinnenamt verlor, obwohl ein anderer schuldig war? Und wussten Sie, dass das Vorbild für Gretchen im Faust, Susanna Margareta Brandt, unter Drogen gesetzt und vergewaltigt worden war? Die beiden berühmtesten “Kindsmörderinnen”, sie waren Opfer von Tätern und sie werden doch vom gemeinen Kulturkenner nicht als solche erkannt.


Es ist unsere verdammte Aufgabe im 21. Jahrhundert, Frauen, die keine Kinder töten, die nur die Weiterentwicklung von Zellhaufen, die biologisch noch nichts fühlen können, unterbinden, weil sie im eigenen Körper geschieht, nicht im gleichen gesellschaftlichen Stigma zu belassen, das das faustsche Gretchen und Medusa traf. Denn wir leben nicht in der Antike, nicht im Mittelalter, wir geben uns modern und progressiv. Deutschland kann nicht die Hälfte der Einrichtungen verlieren, die sichere Schwangerschaftsabbrüche garantieren und weiterhin behaupten, die Emanzipation befinde sich im Fortschritt wie eh und je.





Bild und Text von Luisa Gärtner

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